- Dr. Thomas Ketteler, Chefarzt der Kardiologie am Helios Klinikum Aue.
Impfmüdigkeit im Erzgebirge: Helios-Chefarzt im Interview
Dr. Thomas Ketteler, Chefarzt der Kardiologie am Helios Klinikum Aue, hat sich Fragen zur Impfmüdigkeit im Erzgebirgskreis und zu Vorbehalten gegen eine Impfung gestellt. Das Klinikum hat uns das Interview zur Verfügung gestellt. Wir veröffentlichen es hier ungekürzt.
Sachsen ist Schlusslicht in der deutschen Impfstatistik. Warum ist das so?
Für die meisten ist die Pandemie beendet, sie ist einfach kein Thema mehr. In einer Akutsituation ist der Bedarf immer höher. Das mussten wir im April und Mai beobachten, als wir bei unseren ersten Impfaktionen überrannt wurden. Doch die Menschen haben sehr schnell vergessen, dass wir in der zweiten und dritten Welle am schlimmsten gebeutelt waren.
Rund 900 Tote hat der Erzgebirgskreis im Zusammenhang mit Covid zu beklagen und kaum einer kann noch glaubhaft versichern, er hätte keine Berührungspunkte mit Corona gehabt. Umso trauriger ist es, dass ein Teil der Erzgebirger es nicht schafft, sich impfen zu lassen.
Die Inzidenzwerte liegen seit Wochen unter 10, eine Impfung scheinen viele nicht mehr für nötig zu halten?
Das ist ein Irrglaube. Die Prognosen haben bisher leider immer gestimmt und diese sagen für Ende September / Anfang Oktober eine vierte Welle voraus. Diese wird zwar weniger ausgeprägt verlaufen, aber wissenschaftliche Hochrechnungen gehen aktuell von einer Inzidenz von bis zu 400 aus.
Was macht Ihnen am meisten Sorge?
Covid wird sich langfristig auf die Volksgesundheit auswirken. Die Langzeitfolgen der Infektion werden von vielen unterschätzt. Immer öfter kommen Menschen mit Post-Covid-Symptomen zu uns. Wir erleben dies auch bei Patienten, die einen relativ milden Verlauf hatten. Sie kämpfen Wochen, Monate, teilweise schon seit einem Jahr mit den Folgen der Erkrankung. Mittlerweile werden rund 200 Symptome beschrieben. Die häufigsten sind Erschöpfungszustände, Schmerzen, Luftnot, Haarausfall und Konzentrationsstörungen – und davon sind alle Altersschichten betroffen, auch jüngere Menschen. Man darf sich nicht ausmalen, was das für diejenigen bedeutet, die in dieser produktivsten Phase ihres Lebens nicht mehr so leistungsfähig sind, wie sie es sein sollten.
Wieviele Patienten leiden an dem sogenannten Post-Covid-Syndrom.
Man geht von rund 10 Prozent aller Erkrankten aus. Und da wissen wir noch nicht genau, was noch auf uns zukommt.
Welche Vorbehalte sind es, die Ihnen am meisten zu Ohren kommen
Wir haben von Anfang an möglichst umfassend aufgeklärt, aber es sind immernoch die gleichen Argumente, welche von den Impfgegnern angebracht werden, zum Beispiel die schnelle Entwicklung des Impfstoffes und die Angst vor seltenen Impfkomplikationen.
In Deutschland wurden bisher rund 74 Mio. Impfungen verabreicht. Eine solch gute Datenlage gibt es bei keiner anderen Impfung. Dazu kommen die vielen anderen Länder, welche an die EMA melden. Noch nie konnten wir Mediziner auf eine so gute Informationslage über Impfnebenwirkungen und Impffolgen bauen wie aktuell. Natürlich gibt es diese Impfnebenwirkungen oder Impfkomplikationen, aber die sind im Vergleich zu dem Nutzen der Impfung in den allermeisten Fällen zu vernachlässigen.Es gibt wie bei jeder Impfung Einzelfälle schwerwiegender Nebenwirkungen, das möchte ich nicht verneinen.
In Deutschland melden wir diese über das Gesundheitsamt an das Paul-Ehrlich-Institut und aktuell gibt es bundesweit rund 100.000 Meldungen von vermuteten Impfnebenwirkungen, von denen gelten 10% als schwerwiegend. Hier muss man noch bedenken, dass es lediglich Symptome sind, welche in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung stehen. Das heißt nicht automatisch, dass es einen kausalen Zusammenhang gibt.
Von welchen schweren Nebenwirkungen reden wir?
Durch die Presse gingen vor allem die Sinusvenenthrombosen bei jüngeren Frauen nach Vexzevria von AstraZeneca und die Herzmuskelentzündungen bei jüngeren Männern nach Comirnaty von BioNTech/Pfizer. Es stimmt, dass es hier eine leichte Häufung gibt. Wir reden bei den Herzmuskelentzündungen aber in Deutschland von 0,4 Fällen auf 100.000 Impfungen.
Was man wissen muss: Herzmuskelentzündungen treten auch normalerweise gehäuft bei jungen Männern auf. Warum das so ist, ist nicht bekannt. Die Patienten leiden unter Schmerzen in der Brust oder sogar Herzrhythmusstörungen. Alle Fälle, die bislang gemeldet wurden, in Deutschland sind das rund 230 Fälle, sind, soweit es mir bekannt ist, mild verlaufen.
Auch in unserer Klinik haben wir zwei Patienten begleitet. Wir können also sagen: Die Sinnhaftigkeit und der Erfolg der Impfung werden durch diese Ereignisse in keinster Weise geschmälert.
Warum überzeugen diese Argumente nicht?
Die Teile der Bevölkerung, welche ohnehin gewisse Vorbehalte und von Grund auf Zweifel an wissenschaftlich fundierten Meinungen haben, werden wir nicht erreichen. Was wir aber weiterhin versuchen ist, die Bevölkerung aufzuklären. Wir wollen das, was wissenschaftlich belegt ist, weiterzugeben und haben das auch in vielen Fällen geschafft. So haben wir im Haus mittlerweile eine sehr hohe Durchimpfungsrate.
Viele haben Angst vor Spätfolgen, welche erst nach Jahren auftreten?
Tatsächlich treten diese Schäden gar nicht erst nach Jahren auf, das ist ein weitverbreiteter Irrglaube. Man sollte von seltenen Schäden sprechen. Diese brauchen nämlich eine gewisse Anzahl von Impfungen, um aufzufallen. Bei den normalerweise über das Jahr verteilt stattfindenden Impfungen dauert es eine ganze Weile, bis sie eine erhebliche Anzahl an Impfungen zusammenhaben und diese Nebenwirkungen zu Tage treten. Tatsächlich treten die Nebenwirkungen aber immer in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung, nämlich innerhalb von wenigen Wochen, auf. Wenn man wie aktuell bei der Covid-Impfung innerhalb kürzester Zeit so viele Impfungen durchführt, können wir mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es nur die bisher bekannten Nebenwirkungen geben wird.
Viele sagen, dass es nicht lohnt zu impfen, weil es zu viele Impfdurchbrüche gibt. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Selbstverständlich ist der Impfschutz nicht 100%ig. Die sächsische Impfkommission geht aber davon aus, dass die Ansteckungsfähigkeit eines Geimpften bei rund 1% liegt und der Verlauf einer Erkrankung im Falle einer Ansteckung bedeutend milder ist. Eine Impfung ist also in jedem Fall sinnvoll. Je langsamer es mit dem Impfen vorangeht, umso größer ist außerdem die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Virus weiter anpasst. Eine Herdenimmunität ist die Voraussetzung dafür, die Pandemie endgültig zu bekämpfen.
Ist die vierte Wellte zu verhindern?
Nein. Es gibt Hochrechnungen, welche davon ausgehen, dass bei einer Impfquote von 65% eine vierte Welle kommen wird. Diese wird kürzer und flacher sein. Aber sie ist nicht mehr aufzuhalten, wenn wir keine Impfquote von rund 80% erreichen.
Was bedeutet das für die Kliniken?
Schätzungen gehen derzeit von rund 2.000 Intensivpatienten für ganz Deutschland aus. Dafür sind wir gut gerüstet. Wir rechnen nicht mit einer Überbelastung der Kliniken.
Welche Rolle spielt aktuell Delta?
Eine große Rolle. Diese Variante ist über Aerosole zu 60 Prozent ansteckender. Sie verbreitet sich entsprechend schnell bei Treffen in Gruppen und selbst bei Veranstaltungen unter freiem Himmel.
Sollten Kinder und Jugendliche geimpft werden?
Da vertraue ich auf die Einschätzung der Sächsischen Impfkommission, welche ihre Empfehlungen immer der aktuellen Kenntnislage anpasst. Sie empfiehlt ganz aktuell eine Impfung ab 12 Jahren. Ich sehe aber vor allem auch Eltern, Großeltern, Lehrer, Erzieher und Busfahrer – also die Erwachsenen – in der moralischen Pflicht, sich impfen zu lassen und damit sich selbst und Heranwachsende zu schützen.
